Neunzig Prozent der neuen Lernenden für den Beruf der Landwirtin oder des Landwirts sind Bauerntöchter und Bauernsöhne. Die Landwirtschaft findet aber auch immer mehr Anhänger ausserhalb der bestehenden Strukturen: So ist das Stockengut in Kilchberg für einige Quereinsteiger quasi zur Bastion geworden.
Text und Bild: Renate Hodel, lid.ch
Viele Bauernkinder haben in ihrem Erwachsenenleben nur noch wenig mit Landwirtschaft am Hut. Umgekehrt gibt es aber auch «Stadtkinder», die bewusst den Beruf der Landwirtin oder des Landwirts wählen und dies mit Überzeugung tun. Der Gutsbetrieb «Uf-Stocken» der Zürcher Gemeinde Kilchberg – besonders bekannt als Austragungsort des traditionellen und prestigeträchtigen Kilchberger Schwinget – wird seit 15 Jahren von kundigen «Quereinsteigerhänden» geleitet: Das Verwalterehepaar Gabi Caretta und Stephan Vetsch sind beides gebürtige Städter, nun aber bereits seit über 30 Jahren in der Landwirtschaftsszene unterwegs.
Traumberuf Landwirt
«Ich habe in meinen Jugendjahren in den Ferien mit meinen Eltern oft bei einem Bergbauern ausgeholfen», erzählt Stephan Vetsch. So wusste er schon als kleiner Bub ganz sicher, dass er einmal Landwirt werden wollte. In Zollikofen hat Stephan Vetsch dann das «Buure-Tech» absolviert – heute die Berner Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaf- 35 ten. «Über einen Studienfreund, der einen Hof besass, fand ich schliesslich meinen Weg in die Landwirtschaft», beschreibt Stephan Vetsch seinen Werdegang weiter. Nach vielen Jahren im Kanton Bern kamen er und seine Frau als Verwalter dann auf das Stockengut in Kilchberg. «Meine Frau kam zwar in meinem Schlepptau zum Bauern – es war aber immer ein gemeinsamer Wunsch, einmal auf einem Hof selbstständig wirken zu können», sagt Stephan Vetsch. Als Quereinsteiger zu einem eigenen Hof zu kommen sei allerdings eine Frage von viel Geld und bei einer Pacht komme ausserdem der Faktor Glück hinzu.
Vom Stadtkind zur Landwirtin
Auf dem Stockengut gibt es bisweilen aber noch mehr «Stadtkinder». Nicht nur Gabi Caretta und Stephan Vetsch sind Städter, sondern auch die aktuelle Lehrfrau Linda Oswald. «Wir hatten schon mehr Städter als Lehrlinge – wir haben da keine Berührungsängste, weil wir das selbst eben auch kennen», meint Stephan Vetsch. Die Stadtzürcherin Linda Oswald ist gelernte Schreinerin und macht auf dem Stockengut das erste Praxislehrjahr im Rahmen ihrer Zweitausbildung zur Landwirtin. Ihr Wunsch, auf dem zweiten Bildungsweg Landwirtin zu lernen, entstand vor allem durch eine Mischung von grosser Neugierde und dem Verlangen, Wissenslücken zu füllen: «Ich war in einem Praktikum in Italien und merkte, dass ich kaum Ahnung davon hatte, wie viel überhaupt hinter der Produktion von Lebensmitteln steckt», erklärt sie.
Immer weniger Vorurteile
Ihre Entscheidung sei von allen gut aufgenommen worden und sie habe nur positive Rückmeldungen erhalten. «Ich habe bisher noch nie die Erfahrung gemacht, dass mich jemand aufgrund fehlender Erfahrung oder Ahnung ausschliessen wollte», erzählt Linda Oswald. In ihrer Klasse in der Berufsschule sei sie auch keinesfalls die einzige Quereinsteigerin. Zu seiner Zeit sei das noch anders gewesen, meint Stephan Vetsch. «Während meiner Lehrzeit ging es noch traditioneller zu und her», erinnert er sich. Seine Eltern hätten seine Entscheidung zwar unterstützt, er habe aber auch anderes erlebt: «Nachdem ich bekannt gab, dass ich Bauer werden will, hat selbst der Lehrer gespöttelt. Die fanden meine Wahl seltsam und dachten, dass ich dann immer stinken würde – die Klischeegeschichten halt.»
Landwirtschaft für alle
Und auch Linda Oswald wird trotz viel Wohlwollen vor allem noch mit einem Vorurteil konfrontiert: Sehr oft würden Aussenstehende voraussetzen, dass sie aufgrund ihrer Berufswahl auf einem Hof aufgewachsen sei, sagt sie. «Von fast allen höre ich jeweils den Kommentar: ‹Ah, du lernst Landwirtin – dann bist du also auf einem Hof aufgewachsen und hast einen Betrieb zu Hause›», erzählt Linda Oswald. In der Gesellschaft sei es irgendwie noch nicht so ganz angekommen, dass Landwirtin oder Landwirt ein Beruf sei, den eigentlich jede und jeder lernen könne und der allen offenstehe.
Es braucht neue Inputs
Stephan Vetsch sieht die Tatsache, dass denn auch vermehrt Menschen von ausserhalb in die Landwirtschaft drängen, als grosse Chance. «Es läuft gegenwärtig ja sehr viel in der Landwirtschaft – wir sind in einem steten Wandel», meint er. Unter anderem Klimawandel, Nachhaltigkeit oder Wirtschaftlichkeit würden die Landwirtschaft extrem beschäftigen und bei diesen zukunftsweisenden Diskussionen seien die Jungen besonders wertvoll: Es gehe schliesslich um die Zukunft der Landwirtschaft und damit auch um die Zukunft der jungen Landwirtinnen und Landwirte. «Und darum ist vonseiten Landwirtschaft auch eine Offenheit da, um andere Ideen einfliessen zu lassen, beispielsweise von Menschen, die quer einsteigen und andere Ideen mitbringen», sagt Stephan Vetsch.